Bei meinem Morgenkaffee, meist noch bevor die Sonne mein Haus erreicht, sitze ich auf der Terrasse, wenn es das Wetter zulässt, und scrolle auf meinem Handy durch Facebook … Aber natürlich erst nachdem ich alle fünf Fellnasen begrüßt, geknuddelt und gefüttert hatte 🙂
Auf meiner Timeline heute, so ziemlich als erstes, ein Bericht von Natascha Kampusch:
„Auf einem der ersten Fotos, das durch die Medien geht, lächelt sie. Das war eine Irritation. Jemand, der die Hölle erlebt hat, lächelt nicht. Ein Opfer muss sich wie ein Opfer verhalten. Doch Natascha Kampusch hat die Opferrolle durchbrochen, ja verweigert. Das nahm ihr die Öffentlichkeit übel.“
Das beantwortet die Frage, die ich in der Nacht gewälzt hatte. „Was würde ich tun, wenn mein Pool voller Geld wäre?“ Ich also in der finanziellen Fülle lebe – und in dieser Nacht sich keine Antwort einstellen wollte.
Dürfen Opfer jemals glücklich sein/werden?
Vor meinem Zusammenbruch, Juni 2015, war ich sehr aktiv in verschiedenen „Missbrauchsgruppen“, nicht nur auf Facebook.
Mein Herzensanliegen war es, Überlebenden von Gewalt und Missbrauch, dabei zu unterstützen, die sie am Leben hindernde Opferrolle, hinter sich zu lassen. Sie dabei zu unterstützen in sich selbst einen Weg aus der Vergangenheit und dem erlebten Leid zu finden um selbstbestimmt und selbstbewusst einen eigenen Weg zu gehen. Meine Überzeugung damals wie heute: Es ist möglich die Opferrolle hinter sich zu lassen und frei von Selbsthass, Ekel, Scham, Trauer, Wut, Ohnmacht, Orientierungslosigkeit, Schmerz usw. zu werden …
Das geht nicht …
Was ich erlebt habe, werde ich nie hinter mir lassen können …
Ich kann das nie vergessen …
Niemals werde ich damit abschließen und Frieden finden können …
Doch es gab auch viele, die Interessiert waren ihren Weg zu finden … bis eines Tages ein Satz eines Users zu einem gruppenübergreifenden Shitstorm in meine Richtung, losgetreten wurde:
„Wer so was schreibt, der hat nie Gewalt oder Missbrauch erlebt!“
Bei diesem Satz, so schien es mir, erwachten die stillen Mitleser*innen. Endlich sagte jemand die Wahrheit … endlich gab es da jemanden, der sie verstand …
Ich wurde auf eine andere Ebene der Kraft von „Opfern“ hinein katapultiert, die ich erst gar nicht verstand. Ich war fassungslos … und stieg aus allen Gruppen aus und übergab die Seite „Missbraucht – Das Leben danach“ an eine andere Frau ab, die sie bis vor zirka einem halben Jahr, die letzten vier Jahre betreute. DANKE
Ich begann erst langsam, mit Blick auf meinen eigenen hinter mir liegenden Weg zu verstehen, was da abgelaufen ist. Es ist bedrohlich, wenn da jemand kommt und einem die Opferrolle, die Identität als Opfer, wegnehmen will. Wer bin ich noch, wenn ich meine Geschichte hinter mir lasse? Über was rede ich dann noch, was kann ich dann noch von mir erzählen, wem kann ich noch die Schuld geben, mit welchen anderen Themen soll ich mich dann befassen … Etwa mit mir selbst?
Das ist wie Sterben. Ich weiß es, ich bin selbst da durch gegangen. In die Leere. In dieses Feld außerhalb der Opferrolle. Ein Feld, dass leer war. Das Angst machte. Die Angst davor, nicht mehr zu wissen wer ich bin … die Angst, mein Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben … die Unsicherheit wie ich mich nun verhalten soll … wer ich den überhaupt bin … was ich will … was interessiert mich überhaupt außerhalb meiner Opferrolle …
Einmal Opfer immer Opfer
Dies ist unter Betroffenen/Überlebenden ein unbewusstes „Mantra“ aus dem es oft mit anderen Betroffenen, sehr schwer ist heraus zu kommen. Es ist oft ein Gegenseitiges sich immer wieder in das erfahrene Leid hinein ziehen …
Eine junge bulimische Frau erzählte mir von ihrem Klinikaufenthalt folgendes: Es ist kontraproduktiv mit anderen Bulimischen zusammen zu sein. Da entsteht ein Wettkampf darum, wer am meisten abnimmt und bei der Kontrolle die Wage am besten bescheißen kann …
Ähnliches habe ich teilweise auch in „Missbrauchsgruppen“ wahrgenommen: Wer hat das größte und schlimmste Leid erfahren? Wer findet die schlimmsten und schmerzlichen Artikel, Bücher etc. über Missbrauch?
Die ganze Energie die da ist, wird unbewusst dazu genutzt das Leiden zu füttern. Da ist die stille und uneingestandene/unbewusste Hoffnung, dass wenn ich sehe, dass es anderen noch schlimmer erging, dann geht es mir besser … Das alles geschieht nicht bewusst und wird nicht zuletzt von der Gesellschaft mit gefüttert und erwartet (siehe Beitrag Kampusch) … (Meine Wahrnehmung und Interpretation)
Mein Impuls war es, wie schon bei der Seite „Missbraucht – das Leben danach“, eine Kommunity zu kreieren, in der Frauen, die es aus der Opferrolle geschafft haben andere Frauen, die wirklich da raus wollen, mit ihren Erfahrungen unf mit ihren Tools, die ihnen geholfen haben, zu unterstützen.
Ich bin also nun dem Impuls der sich da in mir erhob, gefolgt und ja klar, kamen auch Bilder einer möglichen Zukunftentwicklung vorbei:
Wie toll wäre es, wenn dies nicht nur eine Facebook-Gruppe bleibt, sondern irgendwann eine Bewegung von Frauen für Frauen, im realen Leben … vielleicht eine Art Verein? … Oder ein größeres Haus in der sich mehrere Frauen zum Austausch, zu Seminaren etc. treffen können … Vamos a ver, was sich aus der Gruppe entwickelt und wohin ihre Wurzeln wachsen werden …
Zur Gruppe nur für Frauen: Ich will raus
Nun gut, der Impuls als Aktion auf die Eingangsfrage die mich eine Nacht wach hielt, führt nun nicht dazu, dass mein Pool voller Geld ist, jedoch es führt zur Lebendigkeit. Jeden Impuls den wir unterdrücken, der so ein ziehen und ein Funken Freude in uns auslöst und den wir dann aber, weil es ja z.B. kein Geld bringt oder was auch immer, wegdrücken, staut den Kanal durch den weitere Impulse zu dir kommen wollen …
Die Frage beim Umsetzen ist nicht, was ist das Ziel? Sondern, hab ich gerade Bock darauf das umzusetzen? Ja? Na dann los. Und genau so ähnlich funktioniert das langsame aber stettige Verlassen der Vergangenheit (der Opferrolle). Ich hoffe in der Gruppe finden dich Impulse, die einfach nur ein JA in dir auslösen … und dann noch einer … noch einer … dann langsam Impulse aus dir selbst zu DIR. <3
Michèle, intuitive Begleiterin und Mittlerin zwischen den Welten