Jeder Mensch hat seine eigene Wahrnehmung und je nach Kultur, Erziehung und sonstigen Faktoren, seine ureigenen Interpretation des Wahrgenommenen – und um diese Realitäten / Wahrheiten / Normalitäten, führen wir dann klein- bis ausgewachsene Kriege …
Ich habe in jüngeren Jahren mit Andersmenschen verbracht (gearbeitet). Wir nennen sie „geistig Behindert“ oder „in ihrer Entwicklung zurück geblieben“. In diesen Jahren habe ich mich sehr oft gefragt: Wer den nun „normal / abnormal“ ist. Ich fühlte mich oft „abnormal“. Diese Menschen waren viel direkter und ehrlicher im Ausdruck ihrer Bedürfnisse und Gefühle. Das empfand ich als „normal“ und wünschte mir, dass wir sogenannten „Normalen“ auch so ein offenes und klares, direktes Miteinander hättten.
Ich war gerade vor zwei Wochen als Betreuerin im Wohnbereich, eingestellt worden. Das Wochenende nahte und die Wochenendbetreuung vakant, da der Betreuer zu Hause krank im Bett lag und so fragte meine Vorgesetzte mich, ob ich mir zutraue, den Dienst schon zu übernehmen, was ich dann auch tat. Kurz wurde ich mit dem Wochenendablauf vertraut gemacht, ging nach Hause und packte Zahnbürste etc. ein um, am Freitag um 16 Uhr meinen Dienst anzutreten der bis Montag um 7 Uhr, bis meine Kolleg*innen wieder mitmischen werden, dauerte. Noch gemeinsam die Morgenschicht, dann um 10 Uhr, die Teamsitzung in der das WE anhand meiner abendlichen Notizen die ich eintragen musste, zu besprechen.
Ich hatte eine „Fehler“ gemacht. Dieser stieß erst auf Entsetzen und bürgerte sich dann als abwechselnde Aufgabe für Erika und Lena ein.
Ich schickte Erika am Samstag zum Bäcker um das frische Brot für uns abzuholen. Dies war der „Job“ von Lena, der ging es aber gerade nicht so gut und sie wollte noch etwas im Bett bleiben.
Erika war aber noch NIE allein unterwegs. Was ich nicht wusste. Ich entschied aus dem Bauch heraus, weil ich Erika anders wahrnahm als meine Kolleg*innen. Ich hatte immer wieder das Gefühl, dass ihre „geistige Behinderung“ eine (unbewusste) Entscheidung von ihr ist. Eine Flucht aus dem was sie als Kind an Gewalt/Missbrauch erlebte. Manchmal, wenn jemand aus ihrer Familie zu Besuch kam, spielte sie das Spiel, gar nichts zu verstehen von dem was man sie fragte oder zu ihr sagte … Dann schaute sie mich oft an und ich hatte das Gefühl, dass sie mir zuzwinkert als wollte sie sagen: „Verrate mich bloß nicht. Wir wissen beide, dass ich mehr kann …“ War ich mit ihr allein, unterhielten wir uns ganz anders/normal. Klar war sie im Denken etwas anders, etwas einfacher, könnte man sagen aber nicht „dumm“, nicht wirklich geistig behindert sondern eben nur anders.
Oder auch Uli, ein älterer Mann, Mongoloid. Meist saß er irgendwo und schüttelte sein Taschentuch und redete vor sich hin. Eines Abends, ich wollte die Abendtoilette mit ihm zusammen machen, er saß auf dem Bett und ich stand vor ihm, streckte er seine Hand aus und schob mich zur Seite und meinte: „Du stehst zwischen uns.“, dabei zeigte er auf die hinter mir liegende Hand und fragte: „Siehst du ihn den nicht?“ Nein, ich sah nichts aber ich glaubte ihm sofort, dass für ihn jemand da stand mit dem er sich gerade unterhielt …
Oder Frederic, ein junger, hübscher Mann der mich beim „Gute Nacht“ sagen, so in den Arm nahm, dass mir klar wurde, dass „geistig behinderte“ Mitmenschen Bedürfnisse nach Nähe, körperliche Nähe (Sexualtität) haben. Ein Thema, das damals vor 30 Jahren erst gerade in Institutionen zum Thema gemacht wurde. Die Teamsitzungen zum Thema Sexualität waren verkrampft und schambeladen – den jede/r wurde nun zwangsläufig mit seiner eigenen Sexualität konfrontiert. Als ich nach 5 Jahren ging, waren wir in diesem Thema noch keinen Schritt weiter. Ich verstand gar nicht, warum wir es nicht als das selbstverständlichste der Welt sehen und uns nur darüber Gedanken machen, wie diese Bedürfnisse für unsere Mitmenschen die anders als wir lebten, möglich gemacht werden können? …
Immer wieder erlebte ich im Zusammensein mit den Andersmenschen, dass sie ihre Gefühle und Bedürfnisse auf ihre „einfache“ Weise ausdrückten. Kein drum herum reden, kein lieb sein, wenn man gerade unzufrieden ist, kein dich lieb haben, wenn es nicht gegenseitig ist … einfach SEIN. Aufeinander einpendeln. Die Sprache des Gegenübers außerhalb der Worte, verstehen/fühlen …
Ja, ich habe meistens eine andere Realität, Wahrnehmung als mein Umfeld.
Für mich gibt es viele Realitäten. Ungefähr so viele wie es Menschen auf diesem Planeten gibt. Ob ich die Realität anderer immer gut finde, das steht auf einem anderen Blatt. Eine Realität die einem vorgaukelt, dass Mensch, Tier und Natur unterdrückt, ausgebeutet, gegeneinander aufgehetzt werden, wo darüber entschieden wird, was lebenswert ist, dass Frauen beschnitten werden müssen und sonstige für mich schockierende Glaubenskonstrukte und Strömungen – zu verstehen warum Menchen auf solche Ideen/Wahrnehmungen kommen und als NORMal durchsetzen, kann ich nicht.
Die Welt mit allem was sie ausmacht, ist bunt. Der Mensch, eine große Blumenwiese mit unterschiedlichsten Blüten, Farben und Formen. Aber Mensch versucht nach einem Einheitsbrei zu streben …
Der Mensch in der Masse glaubt an vorgegebenen Entscheidungen, dessen was normal, was lebenswert, was real ist, um dann um diese Normalität und vermeintliche Realität sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen … Verbal oder „real“.
Wer ist auf Erden „normal“ und wer „geistig behindert“?